Eine Stadt solidarisch – Nazis keine Chance
Eine Stadt solidarisch – Nazis keine Chance

Deutschland 2021:
Vom Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus befreit oder noch infiziert?

Dr. Irmtrud Wojak, Geschäftsführerin der Buxus Stiftung, Initiatorin des Fritz Bauer Forum, Rede beim Gedenkrundgang zum Tag der Befreiung 2021

Herzlichen Dank, heute hier aus Anlass des Jahrestages 8. Mai 1945 / 2021 über den Juristen und Sozialdemokraten Dr. Fritz Bauer zu sprechen. Fritz Bauer (geboren 1903 in Stuttgart, verstorben 1968 in Frankfurt am Main) war ein politischer Jurist, er scheute sich nicht, Stellung zu beziehen, wenn es um staatliche Willkür und Menschenrechtsverletzungen ging. Es war die eigene Geschichte, die ihn dazu ermutigte. Bauer leistete von Anfang an Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er war in Stuttgart Vorsitzender der Republikschutzorganisation „Reichsbanner Schwarz Rot Gold“ und kämpfte an der Seite des Stuttgarter SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher für den Erhalt der Weimarer Republik.

Gemeinsam mit Schumacher wurde er unmittelbar nach der so genannten Machtergreifung ins Konzentrationslager gesperrt. Er überlebte und durchlitt danach Jahre des Exils in Dänemark und Schweden, wo er sich weiter für die Demokratie und das Völkerrecht einsetzte.

Als Fritz Bauer im Frühjahr 1949 aus dem Exil zurückkehrte und seine Tätigkeit als Landgerichtsdirektor in Braunschweig aufnahm, war man nicht mehr nur bestrebt, die Vergangenheit so schnell wie möglich zu vergessen. Vier Jahre nach dem 8. Mai 1945 diskutierte man vielmehr das Problem der von den Alliierten verurteilten deutschen „Kriegsverbrecher“ und Generäle, die noch in Zuchthäusern einsaßen, ließ Spruchkammer- beziehungsweise Spruchgerichtsverfahren allmählich auslaufen. Die aus ihren Positionen entlassenen Beamten konnten alsbald zurückkehren.

Es erregte „das tiefste Befremden der Bürokratie“, stelle Bauer fest, dass es sich bei den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 „nicht bloß um einen Wechsel der so genannten Staatsform gehandelt habe und dass daher am 8. Mai 1945 alle Beamtenverhältnisse erloschen seien.“ Man begreife nicht, dass der Staat zwischen 1933 und 1945 in einen Unrechtsstaat verkehrt worden sei. Stattdessen wurden die Stimmen, die das Ende der Entnazifizierung forderten, immer lauter und die Stichworte ihrer Befürworter lauteten fortan: Amnestie und Integration der Nationalsozialisten.

Die von Fritz Bauer geforderte „Selbstreinigung“ von allem, was hier Unrecht war, ist ausgeblieben.

Wir haben uns gleichwohl angewöhnt, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zu begehen und die Geschichte seit dem 8. Mai 1945, also die rasche Integration der Nationalsozialisten in das politische System, wird heute als bundesrepublikanische „Erfolgsgeschichte“ gesehen.

Tatsächlich waren Amnestie und Integration der wohl größte Erfolg der Ära Adenauer. Doch das frage ich mich oder auch uns: Sollten Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer und sollten die Opfer und Überlebenden von damals und heute dies ebenso sehen?

Der Nationalsozialismus, das macht eine Biografie wie die Fritz Bauers und seiner Mitkämpfer_innen im Widerstand deutlich, kam nicht plötzlich und gewiss nicht erst mit der so genannten Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933. Und Antisemitismus, Rassismus und nationalistisches Denken endeten auch nicht schlagartig am 8. Mai 1945 und von diesem Tag an waren wir davon befreit. Vielleicht sogar gerade das Gegenteil.

Es ist hier nicht der Ort für eine Chronik des Rechtsradikalismus und neonazistischer Parteien und Verbände, von denen Fritz Bauers Bemühungen um Aufklärung und Bestrafung der NS-Verbrechen von Anfang an angefeindet wurden. Anfeindungen und Morddrohungen waren für den Juristen an der Tagesordnung. Erst recht seitdem er als Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main Auschwitz vor Gericht brachte, die Verbrechen der Wehrmacht, der NS-Justiz und der NS-Medizin. Und auch da musste Bauer erleben, dass die Mitwirkung am Massenmord in den meisten Fällen lediglich als „Gehilfenschaft“ verurteilt wurde. Sogar der Stellvertretende Kommandant von Auschwitz wurde lediglich als Gehilfe verurteilt.

Ich meine, wir sollten den 8. Mai dazu nutzen, die Geschichten von Widerstandskämpfer_innen und Überlebenden wie Fritz Bauer und anderen wachzurufen, um uns mit der Frage zu konfrontieren, wie sehr dieses Land denn nun vom Nationalsozialismus, vom Antisemitismus und Rassismus befreit wurde beziehungsweise heute – in Zeiten der rechtsextremen „Alternative für Deutschland“ und der Identitären Bewegung – noch infiziert ist.

Der 8. Mai 1945 war der Tag des militärischen Sieges über den Nationalsozialismus, aber der Kampf der Opfer und Überlebenden, dass diese Geschichte „Nie wieder“ geschehen sollte, fing an diesem Tag erst an. Dies illusionslos zu erkennen und sich klar zu machen, ist unsere historisch-politische, unsere gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe in dem Sinne, wie Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer dies gesagt hat: „Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, dass sie nicht zur Hölle wird.“