Eine Stadt solidarisch – Nazis keine Chance
Eine Stadt solidarisch – Nazis keine Chance

Während der Kriegszeit arbeiteten in Nazideutschland mehr als 11 Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene

Felix Lipski, Holocaustüberlebender, Sprecher des Klub STERN der Jüdischen Gemeinde Bochum, Rede beim Gedenkrundgang zum Tag der Befreiung 2021
Magarita Gosmann liest die Rede ihres Großvaters Felix Lipski

Sehr geehrte Damen und Herren,
am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Wir feiern heute 76 Jahre der Befreiung Deutschlands vom Nazismus,  das Ende des größten Blutvergießens der Weltgeschichte, die Rettung der europäischen Juden vor der vollständigen Vernichtung. Im Zweiten Weltkrieg haben 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren, fast die Hälfte davon  waren Zivilisten. Jeder Zehnte war Jude. Am meisten betroffen waren die Sowjetunion und die Rote Armee. 

Das sowjetische Volk zahlte einen hohen Preis für den Sieg. 27 Millionen Menschen starben, 12 davon waren Soldaten und Offiziere. 

Mehr als 3 Millionen aus der Sowjetunion verschleppte Zivilisten wurden im Reichsgebiet als Arbeitskräfte eingesetzt. Sie haben unter schwersten Bedingungen in der Kriegs-, Stahl-, und Kohleindustrie und in der Landwirtschaft gearbeitet. Sie wurden gezwungen, die zerbombten Orte in Deutschland zu säubern und die Minen zu entschärfen. 

Noch ernster war die Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen. Für sie galt das Genfer Abkommen über die Rechte Kriegsgefangener von 1929 nicht. Von fast 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind 3,5 Millionen in KZs an Krankheit, Kälte und Hunger gestorben oder wurden ermordet. 

Der Ex-Bundespräsident Joachim Gauck hat den Tod von mehreren Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen als eines der größten Verbrechen der Nazi-Zeit verurteilt. 

Bei unseren alljährlichen Gedenkveranstaltungen anlässlich des Sieges über den Nationalsozialismus haben wir wiederholt über die Notlage der sowjetischen Gefangenen gesprochen. Heute möchte ich über eine andere, in Deutschland kaum bekannte Seite aus dem Leben der Kriegsgefangenen erzählen. Die schweren unmenschlichen Lebensbedingungen, der fast unvermeidbare Tod und der Wunsch nach Vergeltung führten zum Widerstand.

Immer wieder versuchten Gefangene einzeln und in Gruppen aus den KZs zu fliehen. Diese bildeten im Anschluss Widerstandsgruppen oder schlossen sich schon bestehenden Partisanengruppen an. Ein Teil der Kriegsgefangenen bildeten innerhalb der Lager illegale Widerstandsgruppen für die Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand und der Massenflucht.

Eine davon war der in Minsk, Anfang 1942, gegründete “Kriegsrat der Partisanenbewegung”. Mitglieder der Organisation stellten Kontakt zu kommunistischen Untergrundorganisationen und Partisanengruppen her. Sie sammelten Waffen, um sich für den Aufstand und die Flucht aus dem KZ vorzubereiten. Leider gelang es dem Sicherheitsdienst SD im März 1942 Mitglieder der Bewegung aufzuspüren und die gesamte Organisation zu zerschlagen. Über 400 Mitglieder wurden verhaftet und etwas 200 davon wurden öffentlich hingerichtet.

Ein weiteres Beispiel war der sowjetische Kriegsgefangene Offizier, Alexander Petscherski. Ein Jude, der einen bewaffneten Aufstand im Vernichtungs-KZ Sobibor geplant und geleitet hat. Die Gefangenen haben einen Teil der Wachmannschaft ausgeschaltet und mehr als 200 Häftlinge konnten fliehen.

Auch an anderen Orten wurden Versuche unternommen, wie in der Nacht zum 2. Februar 1945. Etwa 400 sowjetische Offiziere flohen aus dem Todesblock № 20 im KZ Mauthausen. Fast alle wurden bei der darauf folgenden dreiwöchigen Verfolgungsaktion ermordet. Von den 400 Geflohenen überlebten nur 20.

Auch bekannt sind die organisierten Sabotagefälle in Industrieanlagen. Wie in dem Fall aus Bochum, bei dem 29 Kriegsgefangene, verurteilt für Sabotage von einem Militärtribunal, in das KZ Dachau deportiert wurden.

Die “Bruderschaft der Kriegsgefangenen” (BSV) wurde im März 1943 in einem Kriegsgefangenenlager bei München gegründet und knüpfte Kontakte zu vielen anderen Untergrundorganisationen in anderen Lagern in Deutschland und Österreich, darunter auch zum deutschen antifaschistischen Untergrund.  Ende 1943 wurde die Organisation enttarnt und fast alle ihre Anführer wurden im September 1944 in Dachau hingerichtet.

Eine der eindrucksvollsten Geschehnisse war die Heldentat des sowjetischen kriegsgefangenen Kampfpiloten Mikhail Devyatav, der mit 9 anderen Gefangenen am 8. Februar 1945 den Flieger HE 111 (Henschel 111) stahl und aus dem Flughafen Peenemünde in das befreite Gebiet flog.

Das Schicksal der kriegsüberlebenden sowjetischen Gefangenen und Ostarbeiter nach der Heimkehr war auch sehr tragisch.  Sie wurden als Verräter behandelt. Viele wurden in den Lagern des GULAG für Jahre inhaftiert. 

Während der Kriegszeit arbeiteten in Nazideutschland mehr als 11 Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. 

In Bochum (ohne Wattenscheid) arbeiteten mehr als 30 Tausend ausländische Arbeiter, unter ihnen 5 000 sowjetische Kriegsgefangene und 8 000 Ostarbeiter. Im „Bochumer Verein“ und „Eisen und Hüttenwerk“ haben seit Herbst 1944 über zweitausend aus Ungarn deportierte Juden gearbeitet. Sie wurden als Zwangsarbeiter in zwei Außenlagern vom KZ Buchenwald eingesetzt. 

Während der Kriegsjahre starben in Bochum mehr als 700 sowjetische Kriegsgefangene. Sie ruhen im Massengrab im Gräberfeld Nummer 19. In den anderen Gräberfeldern ruhen ungefähr 1.100 in Bochum ums Leben gekommene Zwangsarbeiter. 93 Juden aus dem KZ Buchenwald ruhen auf dem jüdischen Friedhof an der Wasserstraße. 

Auf dem Grabstein des Massengrabs der sowjetischen Kriegsgefangenen steht: „Die Kriegstoten aller Völker mahnen zum Frieden. Den hier ruhenden sowjetischen Bürgern, den Opfern des Nationalismus … Sie vermachen uns eine Welt in Frieden“. 

Wir sehen, dass gerade in den letzten Jahren fremdenfeindliche, antisemitische und rassistisch motivierte Gewalttaten zugenommen haben. 

Der aktuelle Bericht des Unabhängigen Expertenkreises “Antisemitismus” zeigt, wie verbreitet das Phänomen Antisemitismus und Antiisraelismus ist. Es zieht sich quer durch alle Gesellschaftsschichten in Deutschland. Antisemitismus ist ein wichtiges Merkmal des nazistischen und rechtsextremistischen Spektrums.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, es sei deprimierend, dass jüdische Kindergärten, Schulen und Synagogen noch immer von der Polizei geschützt werden müssen. 

Deutsche Studenten und Schüler haben mangelnde Kenntnisse über die Nazizeit, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Diese Themen müssen im Schulunterricht wesentlich besser vermittelt werden und dafür braucht man gute Schulbücher und Materialien! 

In fast allen Ländern der Europäischen Union werden neonazistische Bewegungen und Parteien stärker. Es finden zahlreiche Demonstrationen statt, bei denen die Teilnehmer Nazi-Symbole tragen und auf welchen nationalistische und antisemitische Parolen skandiert werden. In den Parlamenten vieler europäischer Länder erhalten rechte Parteien eine große Anzahl an Sitzen. 

Wir dürfen die Lehren aus der Geschichte nicht vergessen: Hitlers NSDAP kam 1933 auf parlamentarischen Weg an die Macht, nachdem sie bei der Reichstagswahl auf 37% kam. 

Wir danken den Bürgern Bochums, welche zur Bochumer Synagoge gekommen sind, um ihre Solidarität nach Schüssen auf die Synagoge am 26.04.2021 zu bekunden. 

Ich als Holocaustüberlebender, freue mich, dass die Jugend unserer Stadt das Gedenken an die Opfer der Nazizeit, den Kampf gegen Nationalismus und rechten Extremismus weiterträgt. Die Initiatoren der  Veranstaltung  „76. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und Kriegsende“ waren der Kinder- und Jugendring Bochum und das Bündnis gegen Rechts. 

Wir müssen aktiv gegen Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Verfolgung vorgehen. 

Elie Wiesel, Holocaustüberlebender, Schriftsteller und Nobelpreisträger hat gesagt: 

„Wenn wir vergessen, sind wir schuldig, sind wir Komplizen.“ 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit